To Uncertain Shores
Wenn ein Flug von Frankfurt nach Hong Kong etwa 11 Stunden und ein Flug von Hong Kong nach Taipei etwa eine Stunde dauert, wie lange fliegt man dann von Frankfurt nach Taipei?
Richtig. Etwa 14 Stunden.
Da Russland pro Land nur einer Fluglinie Überflugsrechte verkauft und Taiwan aus Sicht Russlands zu China gehört*, müssen wir als China-Airlines-Flug ganz Russland umfliegen, was dazu führt, dass wir Syrien umfliegen müssen, was dazu führt, dass wir die Indisch-Pakistanische Grenze umfliegen müssen, was dazu führt, dass wir mit noch weniger Schlaf ankommen als gedacht.
Immerhin reicht die Zeit, um ein paar Filme zu schauen (Crazy Rich Asians & The Green Book, beide sehr zu empfehlen) und auszurechnen, dass wir aufgrund der Erdkrümmung bis zu 1.4 Minuten schneller da sein könnten, wenn wir auf Bodenhöhe fliegen würden. Warum da noch niemand drauf gekommen ist? Fragen wir uns auch.
Das Gefühl früh am Morgen loszufliegen und am gewünschten Zielort früh am Morgen anzukommen, hat etwas zutiefst unbefriedigendes. Zwischen meinen 5 geschauten Filmen gehörte zu meiner Beschäftigung mich darüber aufzuregen, dass wir einen nicht allzu logischen Schlenker über Ägypten und Saudi Arabien machten.
*Update: Das ist so nicht ganz richtig — die Regelung mit einer Airline pro Land gilt im Allgemeinen nur für europäische Länder, und auf dem Rückflug sind wir tatsächlich über Russland geflogen. Nach meinem aktuellen Verständnis dürfen dafür aber Flüge von China Airlines, die in Taiwan starten, nicht über Chinesischen Luftraum fliegen — Flüge nach Taiwan sind in Ordnung, müssen aber anscheinend Russland meiden.
Day of the Living Dead
Es ist halb acht, als wir endlich in Taipei landen. Während wir auf unser Gepäck warten, rechnen wir uns schön, wie wir die Zeit totschlagen können: Halbe Stunde Gepäck, halbe Stunde Immigration, eine Stunde SIM- und Metro Karten kaufen, zwei Stunden Bahn fahren, und dann können wir ja auch schon fast unser Gepäck abgeben.
Ungefähr 20 Minuten später sitzen wir mit SIM im Gepäck in der Bahn. Soviel dazu.
Nachdem wir unsere Rucksäcke irgendwo eingeschlossen haben, wo wir die Hoffnung haben, sie wiederzufinden, fahren wir zur Chiang Kai-Shek Memorial Hall.
Chiang Kai-Shek war der Herrscher Chinas vor der Revolution und Staatsgründer von Taiwan. Vor dem Denkmal, welches sehr an das Lincoln Memorial in Washington erinnert, gab es eine Veranstaltung, deren Sinn sich mir nicht ganz erschlossen hat. Aus großen Lautsprechern dröhnten kontextlose englische Sätze, sowie Kinder, die in ohrenbetäubender Lautstärke vielleicht Gedichte aufsagten und sangen — eine interessante Veranstaltung jedenfalls.
Einen kurzen Zwischenstopp bei Seven Eleven später ist es endlich spät genug, um sich auf den Weg zu unserem AirBnB zu begeben. Wir landen in Ximending, einem Viertel, das wir selbst in unserem mittlerweile halbtoten Zustand noch richtig cool finden. Taipeis Shinjuku ist auf jeden Fall keine schlechte Bezeichnung.
Überall nette Läden, Restaurants, Werbetafeln, Neon und kleine Gassen, von denen ich etwa jede zweite fotografiere — in der vergeblichen Hoffnung, Jackys schwarz-weißem Hong Kong Bild Konkurrenz machen zu können.
Die Augen werden kleiner und der Himmel etwas dunkler. Mit letzter Kraft, getrieben von Neugierde kommen wir noch auf einen für Taiwan so berühmten Night Markets. Diese Märkte, die sich ursprünglich um Tempel angesiedelt haben, bieten typisch taiwanisches Essen und nette Atmosphäre.
Auf dem Heimweg schauen wir uns noch den Longshan Tempel an, an den ich mich zugegebenermaßen nicht mehr wirklich erinnern kann. Er war aber bestimmt schön.
Angekommen lege ich meinen Rucksack ab, ziehe mir meinen Schlafanzug an, lege mich ins Bett und verschaffe meinem Gehirn direkt eine kleine Pause von 14 Stunden.
Teilzeitbuddhisten
Wir starten in den Tag mit einem Frühstück in einem kleinen Laden um die Ecke — auf Chinesisch bestellen klappt okay, hat aber noch Luft nach oben.
Danach steht eigentlich das Museum of History auf dem Programm, was aber umgebaut wird. Stattdessen laufen wir durch den botanischen Garten, werden fast von einer Palme erschlagen und schauen uns die Abschlussarbeiten einer Kunstschule an, wo wir auch in einem interaktiven Spiel erarbeiten, was man in einem Theater machen darf und was nicht — gar nicht so einfach, wenn man nicht weiß, wo "richtig" und wo "falsch" steht.
Über einen kleinen Umweg durch den Peace Park geht's weiter zum Huashua 1914 Creative Park — ein altes Industriegelände, das jetzt kreativen Läden, Grünflächen und Community Spaces ein Zuhause bietet.
Vor den alten Gebäuden wird Live-Musik gespielt, auf der Wiese sitzen Familien mit Kindern, drumrum stehen Essenstände. Durch die "da anstellen wo viele Leute stehen" Taktik komme ich in Besitz eines Schoko-Pancakes.
Ob sich über die Gefahren von kurzwelligen Laserstrahlen für das menschliche Auge schon jemand Gedanken gemacht hat, bevor man dutzende Laser in alle Richtungen und auf jeder Höhe angebracht hat? Mein Physikpraktikum verursachte jedenfalls durchgehende Paranoia vor sich möglicherweise reflektierenden Laserstrahlen.
Auf dem Weg zum Taipei 101 kommen wir zufällig an einem Gebäude vorbei, das auf Google Maps als Tempel ausgeschrieben ist, von außen aber moderner und schlicher aussieht, als die, in denen wir bis jetzt waren. Wir schauen trotzdem mal rein und sehen durch eine zufallende Tür einen Saal voller betender Menschen — alles klar, lieber nicht stören. Wir sind eigentlich schon wieder im Gehen, aber ein alter Mann winkt uns freundlich herein — der Raum ist voller schwarz gekleideter Menschen, jeder mit einem Buch vor sich. Es wird im Chor vorgelesen, ab und zu verbeugt man sich.
Eine Frau bemerkt uns und macht uns vor, die Hände vor der Brust zu falten, wie alle hier.
Eine gefühlte Ewigkeit stehen wir so neben der Tür und versuchen, in den richtigen Momenten eine Verbeugung anzudeuten. Wir verabschieden uns mit einer leichten Verbeugung von dem Mann an der Tür und machen uns wieder auf den Weg nach draußen. Strange, aber echt nett.
Das Taipei 101, seinerzeit höchstes Gebäude der Welt, haben wir gestern und heute schon immer wieder zwischen Häusern hervorstechen sehen — richtig nah dran sieht es aber noch viel besser aus, man kann sich fast nicht sattsehen.
Die ungefähr zehn millionen Steinstufen des Elephant Mountain Hiking Trails sind zwar anstrengend, führen aber durch einen hübschen Wald zu verschiedenen Aussichtsplattformen, von denen man einen tollen Blick auf die nächtliche Skyline hat.