Give Me Concrete
oder: Leute in Wohnblocks wollen auch Açaí-Bowls
Wir sind angekommen in unserer Wohnung in einer alten sowjetischen Brotfabrik irgendwo knapp außerhalb der zweiten Ringstraße Moskaus. Wo in St. Petersburg die Straßen gesäumt sind von Prunkbauten in verschiedenen Pastelltönen, dominiert hier der Betonblock als grundlegende Bauform. Aber was wäre ein Trip nach Russland auch ohne brutalistische Architektur?
Auf unserem Weg zur Metro liegt ein etwa 20-stöckiger, gefühlt kilometerlanger, schmaler Wohnkomplex, der uns alle irgendwie fasziniert. In den unteren Stockwerken ist ein Einkaufszentrum untergebracht, darüber schätzen wir zwischen 1000 und 2000 Wohnungen. Beeindruckend groß, auf jeden Fall.
Im Zentrum Moskaus auf dem Roten Platz sieht die Welt schon wieder ganz anders aus: Zwischen Kremlmauer, Kathedralen und Monumenten ist ein Herbstmarkt aufgebaut, in der Mitte spielt eine kleine Truppe klassische Volkslieder, das Publikum singt enthusiastisch mit.
Nebendran erstreckt sich das GUM, ein anscheinend berühmtes / prestigeträchtiges Einkaufszentrum. Durch die großen Drehtüren betritt man eine Welt, in der jemand die Sättigung auf 200% gedreht hat — laute klassische Musik hallt durch die hohen Gänge, alles sieht irgendwie ungesund bunt aus, Menschen in Pagen-Uniformen verkaufen pappsüße retro-Limonaden, von überall ragen Luxusmarken ins Sichtfeld.
Romy fühlt sich wie auf einem Drogentrip, und so ganz unrecht hat sie nicht: Das hier fühlt sich viel mehr nach einer Szene aus Requiem for a Dream an, als ein Einkaufszentrum es jemals sollte.
Den nächsten Tag starten wir im Danilovskiy Markt, einem kreisrunden, zeltartigen Gebäude, in dem man in einer Umrundung israelische Vorspeisen, griechisches Mittagessen und französischen Nachtisch mit arabischem Kaffee genießen kann — und nebenbei mit einem Abstecher in die Mitte der Halle noch den Tageseinkauf abarbeitet.
Bei einem Vietnamesen im Vietcong-style erstehe ich eine Mangomilch, dazu eine Waffel mit Obst. Zu einer Smoothie-bowl bekommen wir noch zwei Packungen abgelaufene Kokosflakes geschenkt. Nett hier.
Bei windig-regnerischem Wetter geben wir danach russischen Kunstmuseen eine zweite Chance: Ein sehr nasser Spaziergang durch den Gorky Park führt uns ins Garage MCA. Dem Namen entgegen handelt es sich hier um ein recht großes und sehr modernes Museum für zeitgenössische Kunst.
Die aktuelle Ausstellung 'The Coming World' ist in den genau richtigen Maßen edgy, laut, bunt, interaktiv und seltsam, immer beeindruckend, überraschend politisch und on-the-beat zu Ökologie und Futurismus. Ein unerwarteter Favorit auf meiner Liste der Kunstmuseen, nur zu empfehlen.
Fazit Russland
St. Petersburg ist architektonisch sehr hübsch und hat im Vergleich zu Moskau die Nase leicht vorn was das Angebot an Restaurants, Cafés und ähnlichem angeht. Am Rand des Nevsky Prospekts spürt man zwar mit jedem Atemzug die Lebenserwartung sinken, aber es hat eben alles seinen Preis.
Moskau dagegen ist Großstadt durch und durch, hat aber trotzdem Charakter. Selbst an irgendeinem Autobahnkreuz nahe der zweiten Ringstraße mit Wind, der einem den kalten Regen ins Gesicht bläst, fühlt man sich noch, als wäre man somewhere. Und darum geht es ja hier irgendwie.
Gerade wenn man aus Finnland anreist, fällt auf, dass die russische Art etwas rauer ist — oder zumindest, dass die Streuung in der Freundlichkeit der Menschen, denen wir begegnen, zunimmt. Aber trotzdem leben hier im Endeffekt nur Menschen — Menschen, die am Bahnhof mit Blumen warten, jugendliche Punk-Menschen und Menschen, die in der Bäckerei mit ihrer Karte bezahlen um unseren Verständigungsproblemen mit der Frau an der Kasse ein Ende zu setzen.
Und ja, es gibt auch Menschen, die in ihrer Freizeit gerne LGBTQ-Menschen zusammenschlagen, Halbinseln annektieren oder Wahlen beeinflussen — von denen habe ich aber nichts mitbekommen und ich bin sicher, sie bekommen auch außerhalb dieses Blogs genug coverage. In diesem Sinne fasse ich den traditionellen Blick auf die dunkle Seite mal kurz: Putin bad, corruption bad, freedom good.
Und das war's dann auch schon: Going Somewhere — Northern Edition. See you next time!